„Nachgefragt bei…“: Wilma von Westphalen, Grosser Kiepenkerl

17.06.2019 | Beispielhaft, Gastro

Der „Grosse Kiepenkerl“ gehört zu den bekanntesten und größten Gastronomien in Münster. Und stellt Tag für Tag unter Beweis: Auch mit hoher Gastfrequenz lässt sich Nachhaltigkeit sehr gut praktizieren. Nicht nur bei den verwendeten Lebensmitteln, sondern auch und ganz besonders im Umgang mit den Mitarbeitern. Wir haben mit der Betreiberin Wilma von Westphalen (Foto rechts mit Tochter Regina) gesprochen.

FRAU VON WESTPHALEN, WAS BEDEUTET NACHHALTIGKEIT IM BEZUG AUF DAS THEMA MITARBEITER FÜR SIE UND IHREN BETRIEB?

Dass man auch in diesem Bereich Ressourcen schont. Der Mitarbeiter ist aus meiner Sicht heute das wichtigste „Produktionsmittel“. Wir können noch so viel regional einkaufen und eigenes Gemüse anbauen – es bringt nichts, wenn wir uns nicht auch immer wieder fragen: Wie geht es denjenigen, die das alles ausführen, bei uns? Man muss jeden einzelnen Mitarbeiter in seiner Haltung und Persönlichkeit wahrnehmen und respektieren.

WIE TUN SIE DAS?

Mein Büro befindet sich quasi mitten in der Gaststube. Meine Tür ist immer offen, jeder Mitarbeiter kann jederzeit mit seinem Anliegen zu mir kommen. Mein Tag besteht zum großen Teil aus Gesprächen. Und wenn es eng wird, stelle ich mich mit in die Spülküche. Wir helfen uns gegenseitig, bei uns polieren auch die Köche die Gläser mit, wenn gerade Hilfe gebraucht wird. Eine Grüppchenbildung Service gegen Küche, wie in vielen Betrieben, gibt es bei uns nicht.

SIE SCHALTEN KAUM STELLENANZEIGEN FÜR SERVICE UND KÜCHE, DENN SIE BEKOMMEN VIELE INITIATIVBEWERBUNGEN. WARUM?

Weil sich durch Mundpropaganda herumspricht, dass wir ein guter Arbeitgeber sind und ein tolles Konzept haben. In Münster gibt es rund 400 Gastronomien, zahlen tun wir mehr oder minder alle dasselbe, denke ich. Jemand, der sich überlegt, wo soll ich arbeiten, der möchte sich mit dem Unternehmen identifizieren können. Diese Identifikation gibt es bei uns – unter anderem wegen der Art, wie wir kochen. Der „Grosse Kiepenkerl“ ist bodenständig. Wir machen westfälische Küche, aber unser Fleisch ist aus artgerechter Tierhaltung, seit wir den Betrieb vor sieben Jahren übernommen haben. Wir verwenden regional erzeugte und Bio-Produkte, wir bieten immer mehr vegetarisch-vegane Gerichte an. Westfälische Küche geht auch fleischlos und das sehr gut. Das gefällt vielen Gästen – und auch vielen Mitarbeitern, ich schätze 70 Prozent sind selbst Vegetarier. Sie identifizieren sich damit, weil sie selbst so leben. Und viele Mitarbeiter, die schon sehr lange bei uns sind, die sich früher überhaupt nicht für nachhaltige Lebensmittel interessiert haben, tun das jetzt und kaufen privat selbst entsprechend ein. Es ist schön, sich mit Menschen zu umgeben, die die gleichen Werte teilen.

WAS BIETEN SIE IHREN MITARBEITERN AN ZUSATZLEISTUNGEN ODER WEITERBILDUNGSMÖGLICHKEITEN?

Zum Beispiel Massagen. Wir haben 500 Plätze und an einem Samstag 1.000 bis 1.200 Gäste, das ist körperlich sehr anstrengend. Wir arbeiten mit einer Masseurin zusammen. Unsere fest angestellten Mitarbeiter, das sind rund 25, können zwei- bis dreimal pro Monat dort einen Termin auf Kiepenkerl-Rechnung buchen. Davon machen nicht alle, aber doch viele regelmäßig Gebrauch. Wir bieten auch zinsfreie Unternehmenskredite an – das ist besonders für diejenigen, die aus Krisengebieten zu uns gekommen sind, eine Hilfe, weil sie ihre Familien unterstützen können. Sie zahlen uns das in kleinen Abzügen der monatlichen Gehaltsüberweisung langfristig zurück. Es wird auch mal eine Arztrechnung übernommen. Aktuell studiert ein Mitarbeiter von uns, der schon mit 17 Jahren seine Ausbildung zum Restaurantfachmann bei uns gemacht hat, an der DHBW Heilbronn, das Studium wird von uns gefördert und teilfinanziert. Er macht dort seinen Bachelor im Bereich Food Management. 2020 werden weitere unserer Azubis dort ihr Studium aufnehmen. Wir wollen unseren Mitarbeitern einen Karriereweg anbieten – und die Hochschule vermittelt Inhalte wie Slow Food, die wir teilen.

IM APRIL 2018 FAND EIN SCHRECKLICHER ANSCHLAG AUF IHREM GELÄNDE STATT. VIER PERSONEN UND DER TÄTER STARBEN. WIE VERARBEITEN SIE UND IHRE MITARBEITER SO ETWAS?

Das ging nur, weil wir ein familiäres Team sind, und weil wir uns gegenseitig in der Gruppe helfen konnten. Wir sind sehr dankbar, dass unsere Mitarbeiter, von kleinen Blessuren abgesehen, körperlich unversehrt geblieben sind. Traumatisch ist es immer noch, immer noch sind einige Mitarbeiter in Therapie. Was uns sehr geholfen hat ist, dass viele junge neue Mitarbeiter, unter anderem die Azubis, im vergangenen Jahr dazu gekommen sind und eine gewisse Leichtigkeit mit reingebracht haben.

WAR EINE SCHLIESSUNG EINE OPTION FÜR SIE?

Wir haben das im Team besprochen. Und hätte es einen Mitarbeiter getroffen, wäre es wohl passiert. Wir hatten ja einige Tage zu, aber wir haben uns hier hinter verschlossenen Türen getroffen. Wir haben gekocht, gegessen und getrunken, geweint und gelacht. Und dann entschieden: Wir lassen uns das nicht kaputt machen. Wir haben jedem freigestellt zu gehen, es sind alle geblieben. Ein großer Zusammenhalt. Anfangs blieben die Gäste weg, was ich auch verstehen kann. Jetzt sind sie zum Glück wieder da, es ist heute ist es kein Ort der Trauer mehr. Es ist wieder einer der schönsten Orte der Stadt. Und die Hilfsbereitschaft der Münsteraner in der schweren Zeit war großartig. Was hier passiert ist, wird immer in ihren Köpfen bleiben, und es gehört auch für immer zu meinem Leben. Aber wir schauen nach vorne.

VIELEN DANK, FRAU VON WESTPHALEN.

Text: Jan Peter Wulf, Fotos: Grosser Kiepenkerl

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