Wer Motivation, Kreativität und Eigenverantwortlichkeit fördern will, muss dem Nachwuchs in der Gastronomie die Chance geben, selbst etwas in die Hand zu nehmen. Wie wäre es gleich mit der Gestaltung eines ganzen Abends? In einem Sternebetrieb? So geschehen beim ersten „Nachwuchs Takeover“ im Bonvivant Cocktail Bistro in Berlin. Jan-Peter Wulf war zu Gast.
Es ist der nicht abkühlen wollende Ausklang eines heißen Sommersonntags im Juli. Das „Bonvivant Cocktail Bistro“ in Schöneberg ist pickepackevoll, die Stimmung schon vor dem Essen ausgelassen und in der Küche herrscht reges, leicht aufgeregtes Treiben. Es liegt in der tropischen Luft: Hier passiert heute wohl etwas ganz Besonderes. Und dem ist auch so, denn es ist kein „gewöhnlicher“ Dinnerabend. Das Motto lautet „Nachwuchs Takeover“: Die Auszubildenden und dual Studierenden haben den Laden heute übernommen. Das Menü, die begleitenden Getränke, wie die Tische eingedeckt sind, alles kommt aus ihrer Hand und wurde von langer Hand vorbereitet: Die ersten Pläne für einen solchen Abend liegen über ein halbes Jahr zurück, seitdem wurde daran immer weiter gearbeitet. Und wie: „Unser Kochazubis haben sich den Kopf zermartert und es sind wortwörtlich Tränen geflossen, wenn die Rezepte nicht funktioniert haben. Am Ende haben sie aber funktioniert, und das macht stolz“, berichtet uns Betreiber Jules Winnfield. Er bleibt heute ganz hinter den Kulissen, die Bühne gehört dem Nachwuchs.
„Beeindruckt, wie gut das alles klappt“
Nachwuchs? Dass Till gerade seine Ausbildung im „Bonvivant“ macht, erstes Lehrjahr, sieht man ihm nicht an: Er ist schon Mitte 50 und hat seinen sicheren Job im Gesundheitsbereich für seine Leidenschaft, das Kochen, an den Nagel gehängt. Er bereitet gerade den zweiten Gang (nach einer leckeren, kalten Suppe aus fermentiertem Spargel) zu, seinen Gang: Tomaten verschiedener Art mit Balsamico, Kombu-Alge und Ziegenkäse, ein zum Wetter perfekt passender, frischer Gang.
Unterstützt wird er dabei von Jurek. Er ist erst seit einer guten Woche im Team, aber schon im zweiten Ausbildungsjahr. Der vorherige Betrieb sei „nicht der Netteste“ gewesen, gibt er uns zu verstehen. Hier fühlt er sich, so hat es den Anschein, wohler, überhaupt scheint das ganze Team sich trotz der Anspannung, draußen sitzen sehr viele (erlebnis)hungrige Gäste, gut drauf zu sein – das kann man im „Bonvivant“ durch das große Fenster zur Küche von der Bar aus recht gut beobachten. Den Azubis assistiert das Küchenteam inklusive der zum „Bonvivant“ gehörenden Kochschule, sogar einige ehemalige Mitarbeitende sind heute mit dabei, damit die Gästeschar – es gab sogar eine Warteliste für das Event – versorgt werden kann. Dem Herd hingegen fern bleibt „Bonvivant“-Chefkoch Nikodemus Berger, er kommt „nur“ zum Essen dazu: „Ich bin beeindruckt, wie gut das alles klappt“, lässt er uns wissen und genießt einen Teller nach dem anderen.
Ab dem zweiten Lehrjahr: Arbeiten wie ausgelernte Köche
Gang drei ist eine knusprig-cremige Kartoffelgalette mit Miso, Romanasalat, Bergkäse und Holunder als süßem Twist, garniert mit Kapuzinerkresse. Leider ist die Schöpferin dieses schönen Gangs nicht anwesend, Auszubildende Rike musste aufgrund einer Erkrankung passen und erlebt leider heute Abend nicht live mit, wie gut dieser Gang ankommt, ebenso ihr Dessert mit Karamell, Nussbutter und Sauerkirsche. Es wird ihr sicher kundgetan worden sein. Als vierter Gang kommt Tills „Ausflug nach Graubünden“: Die Capuns, in Mangold gewickelte Spätzle mit Kräutern und Pilzen an Dashi, schmecken nicht nur toll, sondern sind auch schön angerichtet.
All das geht nur, wenn man, bei allen wiederkehrenden Abläufen in der Vorbereitung eines besternten Restaurants, auch den Raum hat, sich auszuprobieren. Schlicht: zu kochen. „Bei uns kochen die Azubis spätestens ab dem zweiten Lehrjahr an eigenen Stationen, wie ein normaler Koch“, erklärt Jules Winnfield. Einfach nur Tüten aufreißen, immer nur fertige Gerichte zubereiten, das gehe gar nicht mehr. So könne eine Ausbildung heute nicht mehr aussehen: „Auszubildende müssen auch eigene Gerichte kreieren können.“
Selbständiger Service
Auch im zweiten Ausbildungsberuf der Branche – Fachmann/-frau für Restaurants und Veranstaltungsgastronomie – ist nur Raustragen, Einschenken, Eindecken, Abräumen heute viel zu wenig, wenn man Nachwuchs für sich gewinnen will. Das sieht die Neuordnung und -benennung seit 2022 theoretisch vor, es muss aber auch praktisch mit Leben gefüllt werden. Dafür macht sich u.a. die Initiative #proudtokellner stark.
Lisa ist im dritten Lehrjahr ihrer Ausbildung im „Bonvivant“ und leitet den Abend zusammen mit Francesca und Lotta , die wiederum gerade das duale Studium „Culinary Management“ absolvieren und ihren praktischen Teil zwei Tage pro Woche im „Bonvivant“ machen, welches ihnen das Studium und ein Gehalt bezahlt. Mit der Küche kommunizieren, Gänge abrufen, Teller schicken, Getränkewünsche aufnehmen, es ist echt viel zu tun. „Ich koordiniere sonst den Brunch im Bonvivant, insofern kenne ich das schon ganz gut. Und ich habe ursprünglich auch Service im Dinnerbereich gelernt“, erklärt sie uns. Der Service macht den ganzen Abend über einen souveränen Eindruck, der „Azubi Takeover“ ist wirklich schon eine runde Sache. Dass es zwischen Gang zwei und drei vielleicht ein kleines bisschen zügiger hätte gehen können, ist am Ende völlig egal.
„Das Bonvivant ist ein Restaurant, in dem man als Azubi ins kalte Wasser geschmissen wird“, erklärt uns Lisa am Ende des genussvollen Abends. Man müsse sich schon selbst einbringen und zeigen, dass man etwas kann. „Dann kann man sehr schnell Verantwortung übernehmen. Das ist sicher nicht für jeden das Richtige, aber für mich ist es perfekt.“ Sie hat nämlich große Pläne: Irgendwann will sie selbst eine Gastronomie eröffnen.
Talentschmiede
Und wer weiß, wo man die Azubis, die heute ein so eindrucksvolles Menü kreiert haben, irgendwann wieder trifft, wenn sie nicht im Hause bleiben sollten, sondern weiterziehen, wie es ja in dieser Branche üblich ist? Kürzlich waren wir zu Gast im Fine-Dining-Restaurant „Oukan“ und trafen dort einen ehemaligen Auszubildenden des „Bonvivant“ wieder: Vor dreieinhalb Jahren hatte Bao uns hier gezeigt, wie man das Beste aus einem Brokkoli herausholt. Jetzt bringt er im Team von Timur Yilmaz fantastische vegane Kreationen auf die Teller. Wird das „Bonvivant“ den „Nachwuchs Takeover“ wiederholen? Auch das sollen die Azubis entscheiden, hören wir von Chef und Küchenchef. Wenn sie mögen: gerne. Wir würden uns darüber sehr freuen und kommen gerne wieder.
Text & Fotos: Jan-Peter Wulf